01.06.10 – (Artikel aus dem Archiv der alten FA)
Leonberg. Eine Nation grübelt über der Frage: Warum ist Bundespräsident Horst Köhler zurückgetreten? War es die massive Kritik von Persönlichkeiten wie dem Grünenfraktions-Chef Jürgen Trittin an seinen Aussagen zu möglichen Einsatzszenarien der Bundeswehr, die einen auf einmal zu dünnhäutigen Köhler weinerlich von der politischen Bühne jagten? Oder gab es da tiefer sitzende Gründe, die den Betriebswirt Köhler das Handtuch werfen ließen – auf so ungemein spektakuläre Weise und in einer für das Land so prekären Situation?
Gregor Gysi, Polit-Altmeister der Partei Die Linken, brachte es nach dem Rücktritt Köhlers im ARD-Interview auf den Punkt: Mit seinem Rücktritt destabilisiert Köhler sowohl die aktuelle schwarz-gelbe Regierung als auch Deutschland insgesamt – und das in einem Moment, in dem der bisherige Wirtschaftsriese und ehemalige Exportweltmeister Deutschland sowieso auf der Kippe stehe. Riesige Ausgaben müssen für Banken- und Euro-Krise geschultert werden, und die Bundeskanzlerin Angela Merkel selbst rief der Nation im eilig anberaumten TV-Interview ins Gedächtnis, dass wir uns immer noch in der schwersten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren befinden. Alles Herausforderungen, die auf keinen Fall das internationale Signal brauchen, in Deutschland verlässt der höchste Staatsrepräsentant – immerhin der Ex-Chef des Internationalen Währungsfonds IWF – die Brücke eines möglicherweise sinkenden Schiffs.
Horst Köhler ist ein kluger, weitsichtiger Mann. Wenn man die lange Liste seiner Erfolge auf dem internationalem Finanzbankett liest (u.a. Vertrag von Maastricht, Euro-Einführung, Finanzierung deutsche Einheit), kann man nicht glauben, dass ihm die verheerende Tragweite seiner so überstürzt wirkenden Entscheidung vorab verborgen geblieben ist. Man muss sich fragen, aus welchem Grund könnte er diesen Schritt möglicherweise ganz bewusst jetzt und auf diese Art und Weise inszeniert haben.
Ein Ansatz zur Lösung dieser Frage kann in der Biografie von Horst Köhler gefunden werden: Er ist einer der versiertesten (politischen) Finanzexperten, die dieses Land derzeit zu bieten hat. Gleichzeitig tobt da draußen der gewaltigste Wirtschafts- beziehungsweise Finanzkrieg, den die Welt je erlebt hat. Und Köhler hat sich in den vergangenen Monaten als einer der vehementesten und respektabelsten Kritiker der aggressiven Banker erwiesen, der immer wieder die Politik aufforderte, den außer Rand und Band geratenen Finanzhasardeuren Einhalt zu gebieten.
Nun ist Köhler mit Donnerknall zurückgetreten. Seine Stimme, die als Bundespräsident gewaltiges Gewicht hatte, ist verstummt. Die Bürger, das machten alle Spontanumfragen nach seinem Rücktritt deutlich, fühlen sich verunsichert – auch (auf gut deutsch) verarscht. Sie sahen in Köhler einen wohlwollenden Mann mit Rückgrat, der Gesetze schon mal nicht unterschrieb, weil die Parlamentarier ihren Job nicht gut genug gemacht und Paragraphen zu schlampig formuliert hatten. Wann gab es das vorher schon einmal – ein Oberlehrer, der den Regierenden in diesem Land ganz praktisch die Leviten las? – Warum nur lässt sie dieser Mann, dieser Anwalt der kleinen Bürger, der er manchmal wohl war, nun so in Stich!? – Und mit der politischen Elite in diesem Land, die keiner mehr wirklich mag und respektiert, so ganz allein?
Ja, was ist der wahre – und aus Sicht von Horst Köhler – wohl vernünftigste Grund für seinen Rücktritt? Oder ist er gar von düsteren Mächten zum Rücktritt gezwungen worden? – Über letzteres könnte man nur spekulieren; ein vernünftiger Grund für seinen Rücktritt ließe sich aber vielleicht finden, wenn man sich nach seiner Biografie auch einmal anschaut, was für Folgen sein Handel haben wird, beziehungsweise hat.
Horst Köhler bremst durch seinen Abtritt einige ganz konkrete politische Projekte der aktuellen Bundesregierung, zumal als sein kommissarischer Nachfolger der SPD-Politiker Jens Böhrnsen ins Amt rutschte, der als nicht sehr Merkel-freundlich gilt. Der Verdacht, dass es sich dabei um finanzpolitische Entscheidungen handeln dürfte, die Köhler verhindern will, liegt angesichts der gesamtpolitischen Lage und Horst Köhlers beruflicher Expertise nahe.
Man muss dabei zwangsläufig an das hartnäckig kursierende Gerücht der Wiedereinführung der Deutschen Mark (D-Mark 2.0) denken, nachdem die Europäische Zentralbank und die angeschlossenen EU-Regierungen alle Scham-Schwellen zur Rettung des maroden Euros haben fallen lassen. Der Euro, eines von Horst Köhlers prominentesten „Babys“, ist ganz offensichtlich dem Tode geweiht. Köhlers Rücktritt macht es nun mindestens einen Monat lang unmöglich, was Finanzexperten seit Wochen prognostizieren: Eine kurzfristige Wiedereinführung der D-Mark, die als Reserve-Währung längst in den Schubladen liege. Ganz abgesehen davon, dass Köhler als Bundespräsident ganz sicher sowieso nie seine Unterschrift unter eine Verfügung gesetzt haben dürfte, die den Euro außer Kraft setzt. Jetzt muss er das auch auf keinen Fall mehr.
Kann es sein, dass ein Mann wie Horst Köhler sein gesamtes politisches Gewicht für ein solches Szenario opfert? – Ja, es kann sein, wenn auch der sonstige Eindruck nicht täuscht, dass Horst Köhler wohl tatsächlich ein sinkendes Schiff noch rechtzeitig verlässt, bevor es ganz in den Abgrund driftet. Es bleibt nur der Schluss: Horst Köhler hat uns mit seinem Rücktritt alle verkohlt; er wollte ganz bewusst dieses Land verunsichern und destabilisieren, um weiteren finanzpolitischen Irrsinn zu verhindern – oder sich zumindest nicht zum Komplizen zu machen weiterer Raubzüge quer durch die öffentlichen Haushalte der westlichen Welt. Die Destabilisierung ist Horst Köhler auf jeden Fall gelungen; ob er aber mit seiner wagemutigen Entscheidung tatsächlich auch den aktuellen finanzpolitischen Irrsinn auf Dauer verhindern kann, bleibt nur zu hoffen.